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Arbeitszeiterfassungssystem und die Beweislast im Überstundenprozess

Zu den Anforderungen an ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit, Arbeitsgericht Emden Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19

Das Arbeitsgericht Emden hat als erstes deutsches Gericht die “Arbeitszeit-Entscheidung” des Europäischen Gerichtshof (Urt. v. 14.05.2019 – C 55/18) umgesetzt und unmittelbar aus Art. 31 Abs. 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine arbeitgeberseitige Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung gefolgert. Führt der Arbeitgeber ein solches System nicht ein, geht dies in einem Prozess über Überstundenabgeltungsansprüche bei der Frage der Darlegungs- und Beweislast zu seinen Lasten.

Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 20.02.2020 – 2 Ca 94/19

Das Arbeitsgericht Emden hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:
Der Arbeitnehmer war bei dem Arbeitgeber in der Zeit von der 38. bis zur 45 Kalenderwoche des Jahres 2018 auf Grund eines mündlich abgeschlossenen Arbeitsvertrages als Bauhelfer beschäftigt.
Streitig war zwischen den Parteien der zeitliche Umfang der vom Arbeitnehmer erbrachten Arbeitsleistungen.
Der Arbeitgeber kündigte mit Schreiben vom 10.11.2018 das Arbeitsverhältnis zum 24.11.2018.
Der Arbeitnehmer behauptet, er habe im Zeitraum der 38. bis zur 45. Kalenderwoche auf den zwei Baustellen des Arbeitgebers 195,05 Stunden gearbeitet. Der Arbeitgeber habe demgegenüber lediglich 183 Stunden angesetzt und vergütet. Der Arbeitnehmer hat seine Stunden unter Vorlage von eigens aufgezeichneten „Stundenrapporten“ geltend gemacht. Zu Gunsten des Arbeitnehmers ergebe sich eine Restforderung in Höhe von 156,65 EUR.
Der Arbeitgeber hat u.a. eingewendet, dass die Stundenerfassung geleisteter Stunden am 06.11.2018 gemeinsam mit dem Arbeitnehmer, dem Arbeitgeber und einer weiteren Person erfolgt sei. Die Stundenerfassung mit Hilfe des Bautagebuchs sei bei Arbeitsbeginn erfolgt und habe bei Arbeitsende stattgefunden.
Fahrtzeiten von und nach Hause würden nicht bezahlt. Diese seien auch nicht Bestandteil der Stundenvergütung von 13,00 Euro / Stunde für einen ungelernten Bauhelfer, hier den Kläger, gewesen.
Somit ergebe sich eine tatsächliche zu entlohnende Stundenanzahl von 183 Stunden
Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems als vertragliche Nebenpflicht
Das Arbeitsgericht Emden hat der Klage stattgegeben und einen weiteren Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers bejaht. Es hat festgestellt, dass es sich bei der Verpflichtung des Arbeitgebers, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen, um eine vertragliche Nebenpflicht handelt. Verletzt der Arbeitgeber diese vertragliche Nebenpflicht, gilt der unter Vorlage von Eigenaufzeichnungen geleistete Vortrag des Arbeitnehmers, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat, regelmäßig als zugestanden. Die vom Arbeitgeber im Rahmen des sogenannten „Bautagebuches“ vorgenommenen Aufstellungen stellen von vornherein kein System zur tatsächlichen Erfassung der geleisteten Arbeitszeiten in diesem Sinne dar. Etwaige notwendige Anfahrts- und Rüstzeiten, die auch arbeitsvertragliche Arbeitszeiten sind, sind im Bautagebuch nicht aufgezeichnet. Soweit der Kläger beispielsweise als Beifahrer mit zur Baustelle gefahren ist, handelte es sich allerdings um Arbeitszeit.
FAZIT:
Kommt der Arbeitgeber der ihn unmittelbar treffenden Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung nach den vom EuGH formulierten Vorgaben nicht nach, ist er grundsätzlich auch nicht in der Lage – wegen des Fehlens „objektiver“ und „verlässlicher“ Daten auch nicht anderweitig – entsprechend der ihn im Vergütungsprozess treffenden abgestuften Darlegungs- und Beweislast vorzutragen und läuft Gefahr, in Beweisschwierigkeiten zu geraten.