Der Vertrauensgrundsatz und der Fußgänger
Darf ein Autofahrer mit dem verkehrsgerechten Verhalten eines Fußgängers rechnen?
Der Vertrauensgrundsatz
Im Straßenverkehr gilt der Vertrauensgrundsatz. Danach darf jeder Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgerecht verhält, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet. Dies gilt, solange die erkennbare Verkehrslage bei verständiger Würdigung aller Umstände keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung gibt. Grundsätzlich darf ein Autofahrer also darauf vertrauen, dass sich andere Verkehrsteilnehmer (wie andere Autofahrer oder auch Radfahrer) ebenfalls an die geltenden Verkehrsregeln halten und muss nicht mit einem verkehrswidrigen Verhalten der Anderen rechnen.
Was gilt bei Fußgängern?
Auch gegenüber Fußgängern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Autofahrer muss zwar am Fahrbahnrand befindliche und die Fahrbahn überquerende Fußgänger im Blick behalten und seine Fahrweise einer erkennbaren Gefahrenlage anpassen. Er muss aber (außer bei Kindern) nicht damit rechnen, dass ein Fußgänger kurz vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn betritt. Bei einer belebten und breiten Straße darf der Autofahrer deshalb darauf vertrauen, dass ein – aus Sicht des Autofahrers – von links kommender Fußgänger verkehrsgerecht nach Überqueren des Fahrstreifens des Gegenverkehrs in der Mitte anhält und wartet, bis er den anderen Fahrstreifen überqueren kann.
Grenzen des Vertrauensgrundsatzes
Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 04.04.2023 – VI ZR 11/21 einen Fall entschieden, in dem am 07.06.2014 gegen 23 Uhr ein Fußgänger auf einer Brücke – aus Sicht des Autofahrers – von links kommend zunächst über den Fahrstreifen des Gegenverkehrs gerannt ist. Die 12,5 m breite Fahrbahn bestand aus zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen. Verkehrswidrig ist der Fußgänger jedoch nicht an der Mittellinie langsamer geworden oder angehalten, um den Autofahrer vorbeizulassen, sondern weitergerannt. Der Fußgänger und der Autofahrer sind kollidiert und der Fußgänger wurde erheblich verletzt. Aufgrund dieser Verletzungen forderte der Fußgänger Schadensersatz und Schmerzensgeld von dem Autofahrer.
Trotz des verkehrswidrigen Verhaltens des Fußgängers hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Vertrauensgrundsatz hier nicht zugunsten des Autofahrers greift. Denn der Autofahrer hatte Anlass, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln. Er durfte nicht „blind“ darauf vertrauen, dass der Fußgänger in der Mitte der Fahrbahn stehen bleibt und ihn vorbeilässt. Der Autofahrer musste vielmehr die Möglichkeit berücksichtigen, dass der Fußgänger seinen Lauf über die Fahrbahn ohne ein abruptes Anhalten auf der Mittellinie fortsetzen würde und seine Fahrweise an dieses verkehrswidrige Verhalten anpassen. Zulasten des Autofahrers war außerdem die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs – also die potentielle Gefährlichkeit eines Kraftfahrzeugs – zu berücksichtigen, die der Schutzlosigkeit des Fußgängers gegenüberstand. Während die vorgehenden Instanzen die Klage des Fußgängers abgewiesen und eine alleinige Verantwortlichkeit des Fußgängers angenommen hatten, hat der Bundesgerichtshof hier entschieden, dass der Autofahrer den Verkehrsunfall zumindest mitverursacht hat und er daher teilweise für die Unfallfolgen haftet.