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Rentennähe bei Sozialauswahl zur betriebsbedingten Kündigung berücksichtigungsfähig

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit einer aktuellen Entscheidung vom 08.12.2022 klargestellt, dass Arbeitgeber bei der Gewichtung des Lebensalters im Rahmen der Prüfung einer betriebsbedingten Kündigung zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden kann, dass dieser bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht gestellten Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann (BAG, Urteil vom 08.12.2022, Aktenzeichen 6 AZR 31/22).

Sachverhalt

Geklagt hatte eine im Jahr 1957 geborene Arbeitnehmerin, welcher der Insolvenzverwalter ihres Arbeitgebers unter anderem wegen ihrer Rentennähe betriebsbedingt gekündigt hatte. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Als zu kündigende Arbeitnehmerin war die Arbeitnehmerin in der Namensliste genannt. Mit Schreiben vom 27. März 2020 kündigte der beklagte Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2020. Der Insolvenzverwalter vertritt die Auffassung, dass die Arbeitnehmerin in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzwürdig sei. Sie habe als einzige die Möglichkeit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück.

Nach erneuten Verhandlungen kündigte Insolvenzverwalter der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29. Juni 2020 zum 30. September 2020 aufgrund einer nunmehr stattgefundenen Betriebsstillegung. Die Klägerin wehrte sich mit ihrer Kündigungsschutzklage gegen beide Kündigungen.

Vorinstanzen haben der Kündigungsschutzklage stattgegeben

Das erstinstanzliche Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hat die hiergegen gerichtete Berufung des beklagten Insolvenzverwalters zurückgewiesen (LAG Hamm, Urteil vom 03.September 2021, Aktenzeichen 16 Sa 152/21).

Vor dem BAG hatte der beklagte Insolvenzverwalters allerdings (teilweise) Erfolg. Das BAG befand die erste Kündigung vom 27. März 2020 wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam. Allerdings durfte der Arbeitgeber die Rentennähe der Arbeitnehmerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen. Das BAG führt hierzu aus, dass das Auswahlkriterium „Lebensalter“ dabei ambivalent ist. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlags-freien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen– verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht.

Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hatte der beklagte Insolvenzverwalter demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30. September 2020 aufgelöst.

Fazit:

Arbeitgeber, die bei der Prüfung und Abwägung betriebsbedingter Kündigungen ein Sozialauswahl durchzuführen haben, können nach der Entscheidung des BAG nunmehr auch den Umstand der Rentennähe unter dem Kriterium des Lebensalters als Bewertungsmaßstab heranziehen, um die Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer zu bewerten.