Wer auffährt hat Schuld?
Stellen Sie sich vor, Sie fahren auf der Autobahn. Das vor Ihnen fahrende Auto möchte den Fahrstreifen wechseln und beginnt damit. Noch ehe der Fahrstreifenwechsel vollzogen ist, scherrt dieses Auto wieder auf Ihre Fahrspur ein und bremst bis zum Stillstand ab. Sie kollidieren mit diesem wiedereinscherenden Fahrzeug und sollen 100 % der unfallbedingten Schäden des vor Ihnen fahrenden Fahrzeugs ersetzen. Ist das so richtig?
Einen solchen Fall hat das OLG Frankfurt am Main mit Urteil vom 29.04.2025 zu entscheiden gehabt.
Juristisch ist zu beurteilen, ob in dem konkreten Geschehensablauf der Unfall unabwendbar gewesen und (wenn nicht) wie der Umfang der Haftung nach einer Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten zu beurteilen ist. Im vorliegenden Fall hatte das Oberlandesgericht sich damit zu beschäftigen, ob ein sog. Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden vorliegt. Denn „Wer aufhört hat Schuld“ ist die umgangssprachliche Fassung des juristisch als „Anscheinsbeweis“ bezeichneten Vorgehens: Wenn sich Dinge sehr oft gleich darstellen, macht sich der Jurist das Leben leicht. Er geht davon aus, dass das immer so ist – bis diese Regelhaftigkeit entkräftet ist.
Beim Auffahren leuchtet das schnell ein: Wer im Straßenverkehr mit seinem Pkw einem anderen Auto hinten drauf fährt, war zu schnell (gefahren), hat zu langsam gebremst und/oder war unaufmerksam. Vom Schadenbild Heckschaden kommt man mit dem Anscheinsbeweis also zur Schuldzuweisung.
Aber – wir denken an die oben genannte Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge – das kann natürlich nicht immer so sein. In unserem Fall hat der Vorfahrende eine unklare Verkehrslage herbeigeführt. Bei einer solchen Verkehrslage handelt es sich um einen sogenannten atypischen Geschehensablauf, der der Annahme eines Anscheinsbeweises entgegensteht. Darüber hinaus kann der Anscheinsbeweis entkräftet werden, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen Fahrstreifen gewechselt hat oder (wie bei uns) im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrspurwechsel unvermittelt abbricht und wieder vor dem auffahrenden Fahrzeug eingeschert und dort sein Fahrzeug bis zum kurzzeitigen Stillstand von max. 1 Sekunde abbremst.
Bei der Abwägung beiderseitigen Verursachungsbeiträge hat das Gericht nun weiter zu prüfen: Gibt es gegebenenfalls einen Anscheinsbeweis gegen den den Fahrspurwechsel Abbrechenden? Hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an: In dem Fall, den das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu entscheiden hatte, scherrte der Vorausfahrende wieder auf die Fahrspur ein, weil der andere Fahrstreifen durch eine Baustelle beendet wurde und starkes Verkehrsaufkommen herrschte. In solchen Fällen – so das Oberlandesgericht – ist mit einem abrupten abbremsen des Vorausfahrenden oder mit Fahrspurwechslern jederzeit zu rechnen.
Es ist deshalb eine Haftungsverteilung von 50:50 anzunehmen.
Wie können Sie sich schützen? Es ist wichtig, den Sicherheitsabstand einzuhalten. Feste Abstände gibt es in der Straßenverkehrsordnung nicht. Der Fahrzeugführer muss in der Lage sein, auch bei plötzlichem Bremsen des Vordermannes noch sicher hinter dem Fahrzeug anzuhalten. Als Anhaltspunkt für den erforderlichen Mindestabstand kann der halbe Tachowert dienen.